Selbst in homöopathischen Selbsthilferatgebern wird vor der Unterdrückung von Fieber und Hautausschlägen gewarnt. Dass Fieber durchaus nützliche Funktionen hat und Fiebersaft oder -Zäpfchen deshalb möglichst nicht gegeben werden sollten, hat sich in Kreisen gut informierter Eltern bereits herumgesprochen. Dies ist auch am einfachsten mit Konzepten zu begründen, die den meisten Menschen aus dem Biologieunterricht irgendwie bekannt und einleuchtend sind: Hitze zerstört Bakterien und Viren; bei erhöhter Temperatur arbeitet der Stoffwechsel schneller usw. Das homöopathische Konzept der Unterdrückung geht allerdings weit darüber hinaus und ist nicht in allen Teilen so leicht zu erklären. Es ist jedoch wichtig, sich darüber einmal Gedanken zu machen, wenn man mit der homöopathischen Hausapotheke verantwortungsvoll umgehen möchte.
Unterdrückung ist das Beseitigen von Symptomen ohne Heilung der zugrundeliegenden Störung.
Wir Homöopathen verwenden dafür gern eine Metapher, um dies zu illustrieren: Schmerzhafte oder unattraktive Symptome kann man sich so ähnlich vorstellen wie die Ölleuchte im Auto. Die Leuchte ist nicht das wirkliche Problem, sie informiert uns nur über das Problem, das wir nicht so einfach sehen können. Die meisten würden nun sicherlich Öl nachfüllen, und nicht die Leuchte überkleben. Eine unterdrückende Behandlung tut genau dies: die Warnleuchte zukleben, ohne die Ursache anzupacken. Das Resultat könnte dann bald ein Kolbenfresser sein, oder bezogen auf die Gesundheit: eine schwere chronische Erkrankung.
Beobachtungen aus der Praxis
Beispiele für unterdrückende Behandlungen gibt es so zahlreich wie Sand am Meer. Das wahrscheinlich Bekannteste ist die Cortison-Salbe bei Hautausschlägen. Zigtausende Kinder mit Neurodermitis wurden in den letzten Jahrzehnten mit Cortison-haltigen Cremes behandelt. Allerdings bekam ein großer Teil der erfolgreich Behandelten anschließend Asthma. Diese Entwicklung zeigt sich sogar so regelmäßig, dass einige Kinderärzte ihren jungen Patienten bereits vorbeugend Asthma-Medikamente verschreiben, ohne dass diese bislang je einen Asthma-Anfall hatten!
Selbstverständlich soll das nicht als starres Schema verstanden werden in dem Sinne, dass jeder Neurodermitis-Patient, der seinen Hautausschlag mithilfe von Salben loswird, anschließend Asthma bekommt. Und wenn er kein Asthma bekommt, dann war es keine Unterdrückung…
So einfach ist die Sache nicht. Es sind zahlreiche weitere Symptome und Erkrankungen bekannt, die nach unterdrückten Hautauschlägen gehäuft zu beobachten sind, z.B.: erhöhte Infektanfälligkeit, wiederkehrende Mittelohr- oder Mandelentzündungen, Verdauungsbeschwerden und vieles mehr, bis hin zu einer neu auftretenden Epilepsie.
Wie unterscheiden?
Leider gibt es keinen Index, der uns sicher vorhersagt, ob eine Behandlung heilend, unterdrückend oder keines von beidem sein wird. Nicht jede schulmedizinische Behandlung wirkt unterdrückend. Im Gegenzug können homöopathische Behandlungen sehr wohl Unterdrückungen produzieren (v.a. wenn das Mittel ausschließlich im Hinblick auf die aktuelle Diagnose ausgewählt und häufig wiederholt wird), ebenso wie viele andere naturheilkundliche Maßnahmen auch.
Ob es zu einer Unterdrückung kommt, hängt nicht nur von der Art der Beschwerden und der gewählten Behandlung ab, sondern auch von der individuellen Empfänglichkeit und Reaktionsbereitschaft. Letztlich kann die „Diagnose Unterdrückung“ immer nur im Rückblick gestellt werden. Dabei werden neben den ursprünglichen Symptomen und der erfolgten Behandlung auch die weitere Entwicklung des Menschen und sein neuer Gesundheitszustand berücksichtigt.
Auffällige Hinweise auf eine stattgehabte Unterdrückung sind z.B.:
- wenn ein Symptom nach Absetzen der Behandlung wiederkehrt, dann evtl. sogar heftiger als zuvor
- wenn man ein Medikament (und sei es pflanzlich) täglich braucht, über mehrere Wochen, Monate oder Jahre (Substitution ausgenommen; z.B. Thyroxin nach Schilddrüsen-OP oder Insulin bei fortgeschrittenem Diabetes)
- wenn nach einer Erkrankung, die „erfolgreich“ behandelt wurde, Schwäche, Erschöpfung, Arbeitsunlust oder Reizbarkeit bestehen bleiben
- wenn das allgemeine Energie-Niveau, die Lern-, Merk- oder Konzentrationsfähigkeit zusehends abnimmt (wird gern aufs Alter geschoben, passiert aber auch oft bei Kindern)
- wenn immer bedrohlichere Symptome auftreten, nachdem eher harmlose Symptome von der Bildfläche verschwanden (auch mit zeitlichem Abstand), obwohl keine Änderung in der Lebensweise, kein emotionaler Schock und keine Verletzung, Überlastung oder Vergiftung dies erklären könnte.
Bei der kindlichen Neurodermitis ist es häufig so, dass zunächst die erstgenannte Beobachtung gemacht wird: sobald man mit dem Salben aufhört, kommt der Ausschlag wieder, meist schlimmer als zuvor. Dann salbt man wieder, setzt nach der Besserung ab und… Das Ganze wiederholt sich, je nachdem, wie robust das Kind ist, über Monate oder Jahre. Je stärker die Lebenskraft, desto weniger leicht lassen sich Symptome unterdrücken. (So gesehen ist es eher besorgniserregend, wenn ein junger Neurodermitis-Patient binnen eines halben Jahres mit Cortison-Salbe „geheilt“ wird und anschließend nie wieder einen Rückfall erlebt…) Irgendwann dann, meist im Alter zwischen drei und sechs, ist die Neurodermitis endgültig „besiegt“.
Zwischenzeitlich kann man i.d.R. bereits einen fortschreitenden Gesundheitsverfall beobachten (Infektanfälligkeit usw., siehe oben). Während der Grundschulzeit tritt dann bei einigen dieser Kinder ein erster Asthma-Anfall auf. Die Erkrankung ist in diesen Fällen „nach innen gewandert“ und gleichzeitig lebensbedrohlich geworden, weil das lästige aber harmlose Symptom „juckender Hautausschlag“ durch starke Medikamente unterdrückt worden war.
Weitere typische „Unterdrückungs-Karrieren“ sind:
- Einnahme der Pille (= Unterdrückung der Menstruation) -> Schilddrüsenprobleme -> Angststörung
- Fiebersenkung -> Mittelohreiterung -> Antibiotika -> Hyperaktivität
- Genitalpilz / Ausfluss -> Fungizid-Creme -> Gelenksbeschwerden -> Antirheumatika -> Bluthochdruck -> Betablocker -> Depression
- Warzen entfernt -> chronisch vergrößerte Mandeln -> OP -> Migräne
…um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei müsste aber eigentlich jeder Pfeil noch einmal aufgefächert werden, da jeweils verschiedene Reaktionen möglich sind. Auch die Ursprünge der rechts stehenden Beschwerden können vielfältig sein und sind keineswegs auf die hier aufgeführten Beispiele beschränkt. Diese Ketten repräsentieren lediglich einige der am häufigsten zu beobachtenden Verläufe.
Was bislang aufgefallen sein dürfte, ist, dass völlig andere Symptome, die mehr oder weniger lange Zeit später auftauchen, in einen Zusammenhang gebracht werden mit der ursprünglich behandelten Erkrankung. Diese beiden Punkte machen es so schwer, stattgefundene Unterdrückungen überhaupt zu erkennen bzw. diesen Zusammenhang als solchen zu akzeptieren.
Zurückspulen
Als klassischer Homöopath bekommt man allerdings recht häufig Gelegenheit, die Theorie der Unterdrückung in Aktion zu sehen, und zwar rückwärts. Rückwärts?! So ist es, denn Heilung ist das Gegenteil von Unterdrückung. In den meisten Fällen chronischer Krankheiten flackern während des Heilungsprozesses alte (damals unterdrückte) Symptome für kurze Zeit wieder auf. Das ist dann immer ein Moment, in dem der Homöopath sich freut (und vom Patienten deshalb leicht für einen Sadisten gehalten wird… ;-) Der Umstand, dass alte Symptome im Heilungsverlauf wieder auftauchen, ist ein gutes Zeichen für die Heilungsprognose.
Sehr häufig treten alte Hautausschläge während der Heilung chronischer Beschwerden vorrübergehend wieder auf. Diese dürfen dann keinesfalls wieder „weggeschmiert“ werden. In der Regel verschwinden diese Symptome von selbst wieder, bzw. unter fortgesetzter homöopathischer Behandlung mit dem richtigen Mittel für den ganzen Menschen (und nicht mit einem Mittel „gegen das Symptom XY“). Es gibt aber auch wiedergekehrte alte Symptome, die länger bleiben, z.B. Warzen. Warzen erscheinen während des Heilungsprozesses gerne an derselben Stelle wieder, von der sie vor Jahren oder Jahrzehnten entfernt worden waren. Und manchmal gehen sie dann auch nicht so schnell wieder weg, wie die anderen vorübergehend aufflackernden alten Symptome. Dann sollte man sich fragen, was das größere Übel ist: die chronische Krankheit, die gerade im Begriff ist, sich zu verabschieden (sei es Arthritis, Migräne oder Herzschwäche) – oder eine Hauterscheinung, die ein rein kosmetisches Problem darstellt.
Manchmal zeigt sich ein Fallverlauf regelrecht so, als würde ein Film zurückgespult. Ein altes Symptom nach dem anderen taucht wieder auf, und zwar die Ältesten zuletzt. I.d.R. verlaufen diese Episoden zunehmend leichter und erinnern nur noch vage an die früher erlebten Zustände. Dabei ist es wichtig, dass der Patient das Konzept der Unterdrückung zumindest ansatzweise versteht, damit er nicht gleich zum nächsten Therapeuten eilt, sobald unter der Behandlung Symptome auftreten, die er zu Behandlungsbeginn nicht hatte. Auch sollten solche Episoden nicht in Eigenregie mit einem Mittel aus der Hausapotheke behandelt werden, solange man sich in konstitutioneller homöopathischer Behandlung befindet.
Im 2. Teil erläutere ich Hahnemann´s Gedanken zu diesem Thema und bringe ausführlichere Fallbeispiele.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Kent-Depesche (19KD14). Er ist dort auch jetzt schon vollständig zu lesen. http://www.kent-depesche.com/